Diplom-Psychologin & Psychotherapeutin Carola Storm-Knirsch, Wilhelmshöher Str. 24, 12161 Berlin (Friedenau), Tel.: 030 - 851 37 88, Mobil 0151 - 27 03 69 69 (neu), Fax 852 07 72, storm-knirsch@t-online.de, www.storm-knirsch.de

 10 Jahre Vortrag

Die Bedeutung der Psychotherapie-Richtlinien

für die wissenschaftlich fundierte

Psychologische Therapie

von

Prof. em. Dr. Siegfried SCHUBENZ

Freie Universität Berlin

 

am 19.10.1997

auf dem Tag der Freiberufler (BDP)

im Sorat-Hotel, Spreebogen, Berlin

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

was ist heute der Unterschied zwischen einer Richtlinien-Therapieausbildung und z. B. einer Weiterbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten unter der Verantwortung der Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen, also der Nachfolgerin der Weiterbildungsanleitung durch die Deutsche Psychologenakademie, mit dem Ziel der Zertifizierung als Klinische Psychologin/Psychotherapeutin BDP? Es ist - cum grano salis - die ärztliche Leitung des Verfahrens im ersteren Falle und die psychologisch-wissenschaftlich höchst problematische Äquivalentsetzung der dort zugelassenen psychologischen Verfahren (Psychoanalyse, tiefenpsychologisch fundierte Verfahren und Verhaltenstherapie) mit im Pharmalabor entstandenen Medikamenten.

Ich möchte Ihnen in der folgenden Stunde fundierte Argumente an die Hand geben, mit denen Sie Ihr Selbstverständnis als Nicht-Richtlinien-Therapeutin/Therapeut vom heutigen Tage an mit allem Nachdruck aus ihrer Bestimmung als Diplom-Psychologe und nicht mehr aus Ihrer Situation des in Privatorganisationen fort- und weitergebildeten Psychologischen Psychotherapeuten herleiten, so, wie es mit Ihnen jeder Vertreter jedes akademisch begründeten Berufstandes tut, allen voran die Ärzte.

Die Psychologie ist nicht nur eine der jüngsten Fachwissenschaften, sie steht - vielleicht aus diesem Grunde - auch unter einem besonderen Dilemma: Wenn sie im gesellschaftlichen Diskurs nach den geltenden Spielregeln bei mit ihrem Thema verbundenen Problemlagen eigentlich gefragt wäre, melden sich ganz andere zu Wort, im Falle der Psychotherapie z. B. die Medizin. Die Psychologie hört man dann kaum noch, obwohl dieses Thema eindeutig in ihren Bereich fällt. Das ist hier mein Thema. Wie können wir gemeinsam dafür sorgen, dass die Psychologie in der Zukunft selbst gefragt wird und sich auch vor diesem Ziel von niemandem und vor allem von keiner anderen Wissenschaft daran hindern lässt, sich aus eigener Fachverantwortung gutachterlich zu äußern, so wie es in der gewohnten Weise Mediziner, Juristen, Wirtschaftswissenschaftler u.s.w. in Bezug auf Fragen, die in ihren Bereich fallen, tun.

Ich sehe nicht darin das Problem, dass jeder Einzelne und jede Organisation mitreden will in Angelegenheiten, die sie irgendwie interessieren. Mein Problem beginnt erst dort, wo, wie im Falle der Psychologie, andere Organisationen als die Grundorganisationen der Psychologie mit ihren Äußerungen das entscheidende Gewicht haben. Als Grundorganisationen der Psychologie verstehe ich die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs), die die wissenschaftliche Seite des Gegenstandes zu verantworten hat, und den Berufsverband Deutscher Psychologen (BDP), der die Diplom-Psychologen in der Praxis unterstützt.

Diese beiden Verbände repräsentieren den neuen Beruf des Diplom-Psychologen mit seinen wissenschaftlichen Wurzeln und allen großen Aspekten seiner berufspraktischen Erscheinungen. Zusammen sind sie angetreten, das ganze historische Gewicht neuer wissenschaftlicher Einsichten und praktischer Anwendungen, einschließlich der Problematiken der entstandenen Berufe und der Verpflichtung zur ethischen Selbstkontrolle, so zu tragen, dass mit sicherem Gewinn und ohne Schaden die neu erschlossenen Ressourcen genutzt werden können. Unter den verschiedenen Fachsektionen ist es hier die Klinische Psychologie als ein systematischer Teil, der den Gegenstand Psychologische Therapie, mit dem ich mich hier befassen möchte, vertritt.

Warum das alles sagen? Wo liegt hier ein Problem? Ich will es nennen. Die Klinische Psychologie zielt in den beiden Verbänden nicht deutlich genug auf ihre anspruchsvollste und komplexeste Tätigkeit, nämlich die psychologische Therapie, sondern auf alles mögliche andere und ganz beiläufig nur auch auf die psychologische Therapie. Und wo ist die psychologische Therapie, die es doch unzweifelhaft als gesellschaftlich relevante und psychologisch-wissenschaftlich begründete Tätigkeit gibt, organisiert? In den Psychotherapieverbänden, das ist doch ganz klar! Und doch wieder nicht. Oder: eher irgendwie historisch selbstverständlich, aber doch nicht klar war das bis vor zwei oder drei Jahren. Damals wurde als Versuch, eben diese Unklarheit zu überwinden im BDP der VPP gegründet, nämlich der Verband Psychologischer Psychotherapeuten. Und warum geschah dieses unter Beibehaltung der Sektion Klinische Psychologie? Weil das Ziel dieser Gründung eben nicht der Versuch der überfälligen Aufklärung des Grunddilemmas war, sondern ein viel kleineres, viel zu kleines, verbandspolitisches. Weil es damals den DPTV neu gab, den Deutschen Psychotherapeutenverband, der sich im Untertitel Berufsverband Psychologischer Psychotherapeuten nennt, neben dem BDP.

Hier zeigt sich das Problem also auf der Verbandsebene. Vor ein paar Jahren sind diejenigen unserer Berufsfunktionäre, die die Sektion Klinische Psychologie des BDP lenkten, gemeinsam ausgetreten und haben einen neuen Verband gegründet, den DPTV. Sie wollten der Sache der Psychologischen Therapie, durchgeführt von Diplom-Psychologen energisch voranhelfen, vor allem im Zuge der Arbeiten an einem Psychotherapeutengesetz. Sie griffen dazu den vom Forschungsgutachten (1991, Meyer et al.) kreierten Begriff des Psychologischen Psychotherapeuten auf und versprachen sich, das Selbstbewusstsein der unter diesem Begriff zusammengefassten Gruppe gegenüber den anderen Psychotherapeuten, den ärztlichen Psychotherapeuten, zu stärken. Dieser Versuch war aber völlig untauglich, weil sie ihn unternahmen, indem sie gleichzeitig die Wurzeln des Gewächses, das sie da verpflanzten, zerstörten, nämlich mit denen diese psychologischen Psychotherapeuten bis dahin in der akademischen Psychologie verankert waren. Meine Interpretation: Psychotherapie war zu der Zeit im BDP und in seiner Sektion Klinische Psychologie in der Tat nicht wirksam vertreten. Aber der Schritt aus dem BDP heraus und die Gründung einer eigenen Organisation war eine Katastrophe, weil damit Psychologie als komplexes Ganzes und Psychologische Psychotherapie in ihrem erst zu dieser Zeit begründeten neuen Selbstverständnis von Diplom-Psychologen zugleich so auseinandergetreten waren, wie es den gesellschaftlichen Verhältnissen zwar entsprach, wie es aber in der bitter konkurrierenden Doppelvertretung (DPTV versus VPP) jetzt eine nur noch sehr eingeschränkte Verteidigungswirkung gegenüber den sehr erfolgreich operierenden Ärzten haben konnte.

Die Katastrophe bestand also darin, dass wegen der zu dieser Zeit größten Schwäche des BDP in bezug auf seine Position zur Psychologischen Psychotherapie, ehrgeizige Mitglieder sich kopflos in die Neugründung des DPTV außerhalb des BDP stürzten. Diese Spaltung hatte die Folge, dass von innen und von außen von da ab Psychologische Psychotherapie einerseits deutlicher in Übereinstimmung mit dem Psychotherapiegesetzentwurf als die klinische Berufstätigkeit von Diplom-Psychologen gesehen werden konnte, andererseits aber die Diskussion, was Psychotherapie, die offensichtlich auch noch in einem anderen Verband auftrat, nämlich als ärztliche Psychotherapie (und für viele vielleicht auch noch in von beiden Großbereichen unabhängigen ganz anderen Einbindungen), mit der akademischen Psychologie zu tun habe, neue Grade der Verwirrung erreichte, die der Sache der Psychologischen Psychotherapie meiner Meinung nach großen Schaden zufügen.

Seitdem ist die Lage der Psychotherapie in unserer Gesellschaft noch unklarer als je zuvor. Dass es in der kurzen Geschichte der Psychotherapie immer wieder zu Abspaltungen von vorhandenen wissenschaftlichen Zusammenhängen gekommen ist, diese historische Tatsache ist das große Dilemma der Medizin und der Psychologie. Es hat etwas mit der erfolgreichen Etablierung der Psychoanalyse, unabhängig von einer akademisch-wissenschaftlichen Trägerwissenschaft, aber auch - und das hängt miteinander zusammen - mit der vergleichsweise späten Etablierung von Psychotherapie als einzelwissenschaftlich begründete Tätigkeit zu tun. Es hat aber im Besonderen etwas mit der Beziehung von Psychologie und Medizin in unserer Gesellschaft zu tun.

Das Problem, das ich hier untersuche, der Beziehung von akademischer Psychologie und Psychotherapie, besteht in allen mit uns vergleichbar entwickelten Industrienationen. Ich beschränke mich aber auf die Entwicklung in Deutschland. Es begann hier alles mit der ersten Diplom-Prüfungsordnung von 1941. Das Studium der Psychologie zielte von da ab auf eine besondere Berufstätigkeit, die des Diplom-Psychologen, dessen Kompetenz im Unterschied zu einem Magisterstudien-Absolventen (mit frei kombinierbaren mehreren z. T. weit auseinanderliegenden wissenschaftlichen Grunddisziplinen), eng um die neue Einzelwissenschaft Psychologie aufgebaut war, mit dem namengebenden Hauptgewicht in dieser Wissenschaft und einer spezifischen Anwendung im Blick. Wollen wir seitdem wissen, was ein gesellschaftlich anerkannter Psychologe als seine Qualifikation ausweisen kann, dann müssen wir in diese - bis heute mehrmals modifizierte, aber in ihrem Kern gleichgebliebene - Diplom-Prüfungsordnung schauen. In ihr wurden Grundlagen definiert und Anwendungsfächer. Die Grundlagen wollten das über menschliches Erleben und Verhalten theoretisch Wissbare formulieren, aber um dieses Wissen ganz praktisch in den Dienst der Menschen zu stellen. So erlebte man es auch als Studierender in den 50er und 60er Jahren an deutschen Universitäten.

Die Anwendungen der Psychologie als Wissenschaft wurden am Anfang von der Theorie und Methode des Diagnostizierens bestimmt. Ein Diplom-Psychologe der ersten zwei Jahrzehnte des Bestehens dieses Berufes war vor allem anderen dadurch ausgewiesen, dass er ein Diagnostiker war. Das drang sehr schnell in die Alltagsvorstellungen der Nachkriegsgesellschaften vor, so dass wir uns damals - wie es in Restverhaltensweisen noch heute zu erkennen ist - immer wieder von Mitbürgern auch durchaus misstrauisch als diejenigen eingeschätzt sahen, gegen deren diagnostischen Blick sie sich nicht angemessen wehren konnten. In dieser generellen diagnostischen Kompetenz enthalten waren bereits von den Anfängen die drei Anwendungsrichtungen, die wir erst mit der bis jetzt letzten Stufe der Entwicklung von psychologischen Diplom-Prüfungsordnungen 1995 als die drei Anwendungsfächer Arbeits- und Organisationspsychologie, Pädagogische Psychologie und Klinische Psychologie herausgestellt haben.

Die Diagnostik jener Zeit war mehr als die technische Anleitung für eine standardisierte psychologische Untersuchung eines Menschen. Sie schuf das Bild und die gesellschaftliche Kompetenzvorstellung vom Diplom-Psychologen. Die wachsende Mobilität an den Arbeitsplätzen verlangte einen wirksamen Ersatz für die bis dahin ausreichende branchenspezifische Menschenkenntnis. Allgemeine und besondere Leistungstests, Fähigkeiten-, Fertigkeiten- und Interessentests, Persönlichkeitsfragebögen, gewannen rasch an Bedeutung und mit ihnen zogen Diplom-Psychologen in die Schaltzentralen von Wirtschaft und Verwaltung ein.

Die Psychologie trat aber von Anfang an in doppelter Eigenschaft in das öffentliche Leben. Ihre Kompetenz zur effektiven Lenkung von Personalströmen vom Kindergarten über die Schule in die Berufe und die Möglichkeit, Produkte auffälliger zu machen und für sie Käufer zu gewinnen, aber auch Menschen auf politische und andere Ziele auszurichten, war das Eine; das Andere war aber das Eigentliche, nämlich die klinische Grundorientierung. Die moderne wissenschaftliche Psychologie hatte den Anspruch, Menschen aus psychosozialen Notlagen herauszuführen. Die Potenz, Chancennachteile auszugleichen, lag in der Konstruktion des Faches. Es war angetreten, im Sinne der Naturwissenschaften, alles über den Menschen Erfahrbare zusammenzutragen, frei von jeder Bedarfslenkung. Das Menschenbild der aufstrebenden Psychologie enthielt in seinem Kern die Einsicht, dass wir Menschen das sind, was wir gelernt haben, und dass das Lernen unter gesetzten Zielen weithin unbegrenzt optimierbar ist. Diese Psychologie trat an, mit unbeschränktem Optimismus, Menschen von allen bekannten Beschränkungen weg und zu allen Freiheiten hin führen zu können. Burrhus Frederic SKINNER als Lerntheoretiker und sein populärwissenschaftliches Werk: Walden Two (Deutsch: Futurum zwei), stehen für diese Phase.

Die in ihrer diagnostischen Kompetenz klinisch ausgerichteten Diplom-Psychologen standen von Anfang an für das mit der Psychologie eigentlich Gemeinte, demgegenüber jede andere Ausrichtung eine eher problematische Verkürzung zu nennen war. Das exponentiell anwachsende Interesse an der Psychologie verschob das Kräfteverhältnis in den Psychologischen Instituten von der reinen Grundlagenorientierung der Institutschefs weg und zu den Leiterinnen der institutseigenen Erziehungsberatungsstellen hin. Sie nahmen immer mehr Raum ein, füllten über die zwei ersten Jahrzehnte das ganze Hauptstudium derjenigen, die als immer größere Mehrheit nicht die Chance eingeräumt bekamen, eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen. Es wurde zunehmend deutlicher: der Klinisch ausgebildete Diplom-Psychologe war der allein vollständig ausgebildete Psychologe. Die Erziehungsberatungsabteilungen der wissenschaftlichen Institute schufen in den Jahren das Bild eines klinisch kompetenten und grundlagenwissenschaftlich gut ausgebildeten Diplom-Psychologen und sorgten dafür, dass in diesem Sinne sich die neuen gesellschaftlichen Einrichtungen der Erziehungsberatungsstellen und der schulpsychologischen Dienste entwickelten und in diesem Sinne auch die Kolleginnen und Kollegen arbeiteten, die wegen ihrer klinisch-diagnostischen Kompetenz in zunächst psychiatrischen und viel später dann auch in psychosomatischen und Rehabilitationskliniken eingestellt wurden.

Die Tätigkeit dieser klinisch orientierten Kolleginnen und Kollegen war von Anfang an nicht allein die Diagnostik und vor allem nicht die problematische Arbeitsteilung mit anderen Berufsgruppen, die das Ergebnis für welche weitere Verwendung auch immer ausgehändigt bekamen, sondern sie blieben auch für den weiteren Verlauf in der Verantwortung, vermittelten die Ergebnisse in multiprofessionellen pädagogischen oder medizinischen Teams und an die bei ihnen Ratsuchenden selber und mussten feststellen, dass gerade dieser Prozess eine eigene psychologische Kompetenz verlangte, nämlich die des psychologischen Beraters. Beratung wurde seitdem das neue Feld, auf dem sich in der realen Interaktion mit den Klienten die ganze Erfahrungswelt des Faches Psychologie nutzen ließ, ja genutzt werden musste, um die Klienten aus ihrer Notlage herauszuführen, die im vorangegangenen diagnostischen Prozess sichtbar geworden war. Es bildete sich überall ein Klima von großem Optimismus, mitreißender Produktivität und dem spezifisch psychologischen Selbstbewusstsein, in einer unvoreingenommenen Kommunikation mit den Klienten beliebig große Ziele anstreben zu können. Das war die Phase, in der das Konzept der Verhaltenstherapie entstand. Ihre beste und produktivste Zeit lag vor ihrer Systematisierung (als sie noch nichts anderes war als psychologische Behandlung), vor allem aber vor der Gründung der Verhaltenstherapieverbände.

Die Psychologie war bis zum Ende der 60er Jahre in Deutschland eine vergleichsweise kritische Wissenschaft. Sie hatte wegen ihrer noch geringen Verflechtungen mit den Trägern der gesellschaftlichen Macht einen liberalen und eindeutig aufklärerischen Grundton und legte Wert darauf, vorurteilshaft enges und andere Menschen beeinträchtigendes Denken in aller Schärfe zu erkennen und möglichst änderungswirksam zu kritisieren. Klaus HOLZKAMP war in seiner Wissenschaftlerpersönlichkeit eine besonders prägnante, in dieser Haltung weithin wirksame Inkarnation dieser ersten Phase der Psychologieentwicklung hier in Berlin und in der Bundesrepublik. In unterschiedlicher Prägnanz steckte aber diese kritische Haltung in allen vollständig ausgebildeten Psychologen jener Zeit.

Wenn wir die für die Psychologie als Wissenschaft repräsentativen Diskussionen bis gegen Ende der 70er Jahre, nachlesen, dann spüren wir dieses Klima. Psychologie war bis gegen 1978 eine offene, undogmatische Wissenschaft. Sie hatte der Gesellschaft etwas zu geben, was diese mit einer gewissen naiven Dankbarkeit entgegennahm. Das so genannte Wirtschaftswunder wirkte noch nach. Die Wirtschaft entwickelte sich nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ. Die Arbeitsabläufe wurden differenzierter. Die Nachfrage nach den geeigneten Arbeitskräften wurde in der Nähe der Vollbeschäftigung so gestellt, dass sich die Zumutung der Vorgänge der Personalauslese noch in einem unauffälligen Rahmen hielt. Die sich beteiligende Psychologie sorgte für ein sachlich-neutrales Klima. Die Psychologie wuchs mit dem gesellschaftlichen Wachstum selbst und wurde identifiziert und identifizierte sich von Ende der 50er bis Ende der 60er Jahre zusammen mit der Pädagogik eher mit der notwendigen Mobilisierung von Bildungsreserven, als mit deren selektiver Verteilung.

Psychologen drangen in dieser Zeit in alle intensiv produktiven Industriezweige ein, sorgten für den Abbau von alten Vorurteilen gegenüber der Änderungsfähigkeit und Motivierbarkeit von Mitarbeitern und schufen das liberale, kooperative Arbeitsklima und die Voraussetzungen für effektivere Teamarbeit. Psychologen waren in ihrer Mehrzahl moderne, neugierige Menschen, die Probleme des Zusammenarbeitens und Zusammenlebens für prinzipiell lösbar hielten. Ihr wissenschaftliches Bekenntnis zu Wertneutralität und Aufklärung machte sie zu einer Kraft, die mit den ganz entsprechenden Tendenzen in Sozial- und Geisteswissenschaften um sie herum, Ausdruck und Trägerbestandteil der 68er-Bewegung geworden ist.

Mit dem raschen Anwachsen der Psychologie in der Gesellschaft und entsprechend an den Universitäten - sie wuchs in der Zeit von der kleinen Ein-Ordinarien-Wissenschaft (mit zwei wissenschaftlichen Mitarbeitern, zwei studentischen Hilfskräften und Studierendenzahlen pro Universität im Bereich um 50) zu Großinstituten, wie z. B. hier an der FU, mit 3 Hochschullehrern, vier auf Mitarbeitstellen sitzenden Privatdozenten, 7 wissenschaftlichen Mitarbeitern und gegen 200 strebender Zahl von Studierenden, und alle kamen in einschlägigen psychologischen Berufen unter, mit einem wachsenden Übergewicht bei den klinischen Tätigkeiten. In dem Maße wuchs das kursierende psychologische Wissen in allen Ebenen exponentiell und dementsprechend das Selbstbewusstsein des jungen Faches. Es war die Zeit großer Projekte aus der Psychologie heraus. Erziehungsberatungsstellen wurden gegründet. Das Zweitstudium Psychologie für Lehrer wurde initiiert, um Fachkräfte für zu gründende schulpsychologischen Dienste zu gewinnen. Die Schulen ließen sich im großen Maßstab von der Psychologie beraten, um etwa die ausufernden Sonderschuleinweisungen zu reduzieren. Es fand eine große Theorie-Praxis-Kooperation z. B. unter dem Stichwort Legasthenie statt und vieles andere noch.

Die dieses Fach wesentlich prägende Nachkriegsentwicklung der auf eine spezifische Berufspraxis als Diplom-Psychologe vorbereitenden neuen Wissenschaft verlief im deutschsprachigen Raum ganz ähnlich wie in den USA. Es gelang ihr hier wie dort, (hier, indem die klinische Berufspraxis in die Universität geholt wurde, und dort, indem künftige Wissenschaftler erst nach einer prägenden Bewährung in der klinischen Berufspraxis an die Universität zurückgeholt wurden), den in den Grundlagen und in der klinischen Anwendung erfahrenen Wissenschaftler als Hochschullehrer zu erzeugen. Die moderne Psychologie ist dadurch zentral bestimmt, dass sie die wesentlichen theoretischen und methodischen Grundlagen beherrscht und die komplexeste und anspruchsvollste Praxis als Klinischer Berufspraxis produktiv mit ihnen verbindet.

Alles, was dem nicht entspricht, gefährdet den historischen Prozess der Weiterentwicklung der Wissenschaft Psychologie im reaktionären Sinne, d. h. im wirklichen Sinne des Rückschrittes. Dieser Rückschritt ist auf breiter Linie seit dem Ende der 60er Jahre in der Psychologie zu verzeichnen.

Die organisatorischen Folgen der Verzehnfachung des Hochschullehrerbestandes mit den großzügigen Folgen im Mittelbau zwischen Ende der 60er und Anfang der 80er Jahre und die neue Elitenbildung unter nicht anwendungsorientierten Wissenschaftlern ist dazu angetan, die Einheit der Psychologie nach einem sehr kurzen Eigenleben als gesellschaftlich nützliches, neues, in sich dynamisch geordnetes komplexes Konzept wieder preiszugeben. Einer der damaligen Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, Martin IRLE, warnte in seinem Bericht zur Lage der Psychologie am Ende der 70er Jahre und als Symptom der aktiven Rückwertsbewegung auf breiter Linie auch über die Psychologie hinausgehend, davor, dass die Psychologie von den Berufswünschen ihrer Studierenden in gefährlicher Weise anwendungs- und vor allem klinisch anwendungsorientiert akzentuiert würde. Sie sollte, um unbeschadet zu überleben, sich auf ihre theoretischen Teile besinnen und sich wieder eher als theorie- und methodenorientierte Dienstleistungswissenschaft, für welche Kräfte auch immer in unserer Gesellschaft, verstehen, genau das, was die Studentenbewegung kritisiert hatte.

In die Zeit der Lockerung des inneren Zusammenhalts der Psychologie fällt auch die Gründung des außeruniversitären Verbandes der Verhaltenstherapie und der wissenschaftlichen Gesprächspsychotherapie. In ihrer Wirkung von Universitätsvertretern ganz anders gewünscht, bewirkten diese Gründungen die vergleichsweise größte bisherige Gefährdung der Psychologie als Anwendungswissenschaft. Auf ihren Kongressen eigentlich eher liberal und undogmatisch in der Vertretung ihres Gegenstandes (besonders die DGVT), beginnt unversehens die Entmündigung der Universität in Bezug auf ihre bisherige Vertretung der klinischen Praxis im Sinne der entfalteteren Intervention, die nun den Begriff Therapie trägt.

Diese Verbandsgründungen, die von Seiten der Universitätsvertreter nur deswegen unterstützt worden waren, weil man sich mit ihrer Hilfe die Herstellung eines Gleichgewichtes zwischen Ärztlicher Psychotherapie (damals weitgehend identisch mit Psychoanalyse) und Psychologischer Psychotherapie (damals noch submissiv selbst als nicht-ärztliche Psychotherapie bezeichnet) versprach und damit in der großen historischen Auseinandersetzung mit dem Medizinsystem die Stärkung der Position der Psychologie, pervertierte aber sogleich.

Um auf den privaten Markt zu kommen, auf dem der Verband der Analytiker und Tiefenpsychologen (DGPPT, später DGPT, Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Tiefenpsychologie und Psychosomatik) bis dahin das Monopol hielt, machten die neuen Verbände dem alten alles nach, mit dem gefährlichsten aller Teileffekte, dass sie sich in einen offenen Widerspruch und in die aggressive Konkurrenz zur Universität setzten und sofort anfingen, der akademischen Psychologie abzusprechen, den Theorieteil ihrer Ausbildung in klinischer Praxis als Verhaltenstherapie oder als Gesprächspsychotherapie weiterhin zu betreuen.

Auf wahrhaft irrationale Weise begannen sich nun die Theorie- und Methodenveranstaltungen in Klinischer Psychologie innerhalb der Universität und außerhalb der Universität zu doppeln, mit dem geradezu ungeheuerlichen Effekt, dass die entsprechenden Veranstaltungen an den Universitäten erodierten, ja, dass Studierende, manchmal schon vor dem Vordiplom oder obszöner Weise genau parallel zum Psychologiestudium Ausbildungen in den privat angebotenen Weiterbildungen zum psychologischen Psychotherapeuten unternahmen.

Während man die 70er Jahre noch als die in der Sache dunkle aber produktive Zeit bezeichnen kann, kam es dann in den 80er Jahren zu den Verhältnissen, die wir heute haben. In den 70er Jahren fingen unter dem Druck der Verhältnisse und aus Karrieregründen Universitätsvertreter mit wissenschaftlich klinisch-psychologischen Interessen an, mehrgleisig zu verfahren, die ganze widersprüchliche Realität in sich als eine Person aufzunehmen. Man war wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer klinischen Abteilung an der Universität, forschte und lehrte dort höchst produktiv und ging zugleich zu den privaten Weiterbildungen in der einen oder anderen oder gar der dritten Richtung, der alle erdenkliche persönliche Sicherheit versprechenden Weiterbildung in Psychoanalyse. Das geschah mit allen Folgen der Dopplungen der Angebote und der Indoktrinierung der Absolventen durch die Weiterbildungen, das an der Universität Gelernte als wenig hilfreich anzusehen. So sind Generationen von Hochschulvertretern entstanden, die sich selbst nicht mehr ganz verstehen konnten. Am Ende hat das dazu geführt, dass diese Kolleginnen und Kollegen an den Universitäten in der Regel schweigen, wenn berufspolitisch von Psychotherapie geredet wird, oder aber den Standpunkt eines privaten Therapieverbandes vertreten, wo doch ihre Meinung als in der Sache produktiv forschende Wissenschaftler gefragt ist.

Folgerichtig traten in den Jahren darauf Hochschullehrer in Klinischer Psychologie in Erscheinung, zu deren die Berufung mitentscheidenden Qualifikationen es gehörte, z. B. Verhaltenstherapeuten oder Gesprächspsychotherapeuten oder sonstiges zu sein. Und nun nahm das Schicksal seinen Lauf. Wenn man aus den 70er Jahren trotz aller schon angelaufenen Vorbereitungen, die ich genannt habe, noch erbauliche, wohltuende und klare, sogar im theoretischen-praktischen Konsens vorgetragene selbstbewusste Verantwortungsübernahmen für die Klinische Psychologie als psychologische Therapie lesen kann, die eine wirklich offene, wissenschaftlich in ihrer Entwicklung von niemandem beschnittene Sicht vertrat, verschleierte sich das Bild in den 80er Jahren mit dem systematischen Ergebnis des aktiven Erinnerungsverlustes.

Die gemeinsam vom BDP und der DGPs organisierte Weiterbildung zum Klinischen Psychologen, der objektive Königsweg zur klinischen Praxis für alle, die psychologische Therapie als modern allein von einer einschlägigen Wissenschaft zu verantwortenden gesellschaftlichen Praxis, vergleichbar der des Juristen, Pädagogen oder Mediziners, ansahen, verfiel zu einer beinahe wertlosen als schmalspurig geltenden Weiterbildung für die Schwachen, relativ Armen und weniger Geeigneten. Eine oder bald besser mehrere Psychotherapieschulen durchlaufen oder, am höchsten bewertet, eine Psychoanalyseausbildung absolviert zu haben, geriet zum Eigentlichen, das man, die bisherige Spitze der verwirrten Ereigniskumulation, ohne jeden Nachteil sogar unter weitgehender oder sogar auch vollständiger Ignorierung der akademischen Psychologie, zum Beispiel als Arzt, mit scheinbar bestem Erfolg erreichen konnte. Der bisher letzte Akt: Psychotherapie hat eigentlich gar nichts Herausragendes mit der Psychologie als Wissenschaft zu tun. Psychotherapie bezieht sich auf viele Quellen, so wie es die Begründer von verschiedenen Therapieschulen selber propagiert und in ihrer Person zum Ausdruck gebracht haben.

An dieser Stelle stehen wir gegenwärtig. Die akademische Psychologie muss unter ungünstigsten Bedingungen darum ringen, die verantwortliche wissenschaftliche Beziehung zur Praxis der psychologischen Psychotherapie zu behalten. Äußerungen, wie die von GRAWE, BAUMANN oder MARGRAF zur systematischen Verbindung von akademischer Psychologie und psychologischer Psychotherapie, geraten schief, unklar, defensiv. Sie laden geradezu dazu ein, von ärztlichen Psychotherapeuten einfach aufgehoben zu werden, jovial, aber zugleich im medizinischen Allanspruch für das, was den Begriff Therapie an sich bindet, die grundgesetzlich verbriefte Monopolstellung zu besitzen, wie letztens im Report Psychologie geschehen unter masochistischer Assistenz durch unseren Berufsverband BDP.

Für alle Psychotherapie ist das Medizinsystem zuständig. Das wurde in dem eben von mir beschriebenen Zuge in den 80er Jahren immer deutlicher, bis es zur rechtlichen Klärung kam, die aber in der gesellschaftlichen Realität ein nicht zu übersehendes Dilemma darstellt. Psychotherapie, die de jure nur Ärzte durchführen konnten, wurde in der Realität von der Rechtslage unbeirrt von einer ständig wachsenden Zahl von Nicht- Ärzten, vor allem von Diplom-Psychologen durchgeführt, die entweder das Zertifikat Klinischer Psychologe BDP oder das Zeugnis über eine oder mehrere Weiterbildungen bei irgendeiner Therapieschule vorweisen konnten. Diese Praxis hatte Größenordnungen erreicht, die man nicht mehr ignorieren oder einfach beseitigen oder gar kriminalisieren konnte. Ein politischer Kompromiss musste her, der in der Gestalt der auf Psychotherapie spezialisierten Heilpraktikerzulassung in die Welt kam.

Dieser Vorgang schuf zwar minimale Rechtssicherheit, befriedigte aber niemandem, ja, beleidigte das heranwachsende Selbstverständnis von Diplom-Psychologen dermaßen, dass sie von da ab politisch minimal entschlossen und handlungsbereit waren. Das beförderte den letzen Teilprozess in der bisherigen Geschichte der psychologischen Therapie, die Aktionen um den Entwurf für ein Psychotherapeutengesetz.

Wer mit mir der Meinung ist, dass die größten der gegenwärtigen Probleme in den Industriegesellschaften die der mangelnden komplexen sozialpolitischen Gestaltungskraft sind, wird vielleicht zustimmen können, dass die Sozial- und Gesellschaftswissenschaften gestärkt werden sollten, wie das ein wichtiger Impuls der Studentenbewegung gewesen ist. Das Gegenteil ist der Fall. Wir verzeichnen international einen Tiefpunkt in der Wertschätzung von Soziologie und Psychologie als kritische Analyseinstrumente der Allgemeinheit.

Psychotherapie ist keine neue oder alte Anwendung der Medizin. Psychotherapie war nie eine medizinische Anwendung und wird dies auch nicht über die neuen Entwicklungen in der Medizin, ich meine die neuen Facharztgründungen, werden. Es hat sehr wenig Aussagewert, wenn gesagt wird, dass in der Medizin das Prinzip der Psychotherapie enthalten sei. Das stimmt gewiss für die ganzheitlicheren Vorläufer gegenwärtiger ärztlicher Praxis. In dieser Weise haben alle modernen Wissenschaften ihre Wurzeln auch immer noch in der Philosophie.

FREUD hat zunächst den Versuch gemacht, seine Gedanken in medizinischen Fachkollegien als neue medizinische Forschung zu verankern. Eine Front einheitlicher Ablehnung und des Unverständnisses verhinderte diesen Weg, weil seine Kritik am Mainstream der damaligen Medizin zu prägnant war, die sich als naturwissenschaftliche Orientierung auf den Körper sehen wollte und auch nicht einmal in der Psychiatrie einen zweiten Weg für nützlich ansah. Im medizinischen System gerinnt die Psychotherapie zur Anleitung, mit Patienten überhaupt wieder zu sprechen und die Anwendung des großen medizinischen Apparates, wo es überhaupt geht, ein kleines Stück menschlicher zu machen. So wie die Psychopharmaka in wachsender Zahl als neue Anteile in Kombinationspräparaten auftauchen und damit anzeigen, dass psychosomatische Komplizierungen in Symptomen immer mehr zur Regel werden, wird die ganz neue Kombination von Pharmaka mit Psychotherapie zur erhofften Superwirkung medizinischer Intervention. In jedem Fall folgt dabei die Psychotherapie den Spielregeln bisheriger Körpermedizin.

Psychotherapie wird z. B. als Verhaltenstherapie im medizinischen Rahmen und mit sehr kurzen Interventionszeiträumen nach der Logik von Medikamenten eingesetzt und Ärzte bilden sich entsprechend nur minimal weiter, um den Titel oder Facharzt Psychotherapie zu erlangen (Siehe auch Karin FLAMM im Psychotherapeutenforum, 1/97). Eine bestimmte Anzahl von Psychotherapieeinheiten löschen das Symptom. Besser noch als die Verhaltenstherapie passt die NLP, das neurolinguistische Programmieren, in dieses Bild. Sie verspricht mehr noch als andere Verfahren, sehr effizient zu sein. Ist da aber nicht die Psychoanalyse eine Ausnahme? Aus der Emigration heimgekehrt als medizinsystemkompatible Anwendung, kann sie doch immer noch mindestens 180 Sitzungen mit der Krankenkasse abrechnen. Sie steht aber unter dem gleichen Druck des alles Therapeutische vereinnahmenden Medizinsystems. Schon werden auch von ihr Wirksamkeitsnachweise verlangt, die dem Modell der Medikamentenüberprüfung zu folgen haben, siehe die Studie von GRAWE.

Die Psychoanalyse geht - so sehe ich das - in ihrer Anpassung an das Medizinsystem den gleichen Weg wie alle anderen, bisher selbständigen Psychotherapieverfahren. Sie wird unter Ökonomiedruck verdichtet und standardisiert und von der Person des Anwenders so weit getrennt, bis sie einer bisherigen medizinisch-technischen Anwendung zum Verwechseln ähnlich in jede medizinische Praxis, verabreicht von Hilfspersonal, passt, wie gegenwärtig Massagen und Ergotherapie. Das ist der Weg: Der Facharzt verordnet in seiner Praxis die Durchführung von Psychotherapie und seine abhängigen, niedrig entlohnten Mitarbeiter führen die Anwendung in großer Zahl und zu einem für die Krankenkassen unauffälligen Preis durch. Das ist die Rolle der sogenannten Richtlinien-Verfahren, bei denen Diplom-Psychologen unter ärztlicher Leitung weitergebildet werden und danach unter dem generalisierten Arztvorbehalt als Delegationspsychotherapeuten arbeiten.

Moderne klinisch-psychologische Intervention ist aber etwas ganz Anderes und das mindestens schon seit FREUDs Tagen. Sie ist ein Heilungsunterstützungsangebot von der Seele her. Sie ist die gemeinsame Expedition in biographische und gesellschaftliche Vorzeiten, kritisches Verstehen der eigenen Entwicklung, praktisches Wiederaufgreifen von Lebenswegen, die früh blockiert worden sind und zur Isolation und sozialen Ausgrenzung bis hin zur schweren psychischen Erkrankung geführt haben. FREUD war ursprünglich sehr skeptisch, ob moderne ehrgeizige Ärzte dieses Verfahren überhaupt erlernen könnten und stellte sich eine Zeit lang die Laienanalyse als neuen Weg vor.

Psychotherapie ist, wie auch immer sie sich historisch bewegt und verändert hat, in der Folge dieser Anfänge vor allem keine mit dem medizinischen System kompatible Anwendung, sondern ein eigenes Heilungsparadigma, das noch immer dem bisherigen einseitig weiterentwickelten medizinischen Heilungsparadigma kritisch und kämpferisch gegenübersteht. Psychotherapie, die in den letzten Jahrzehnten vor allem durch die Grundlagenforschung der akademischen Psychologie ihre hochwirksamen Optionen erhielt, baut nicht auf ein unzeitgemäßes hierarchisches Gefälle zwischen Arzt und Patient, sondern auf ein höchst produktives, modernes auf Vertrauen aufgebautes Arbeitsbündnis, das seit ROGERS als reale zwischenmenschlich tragfähige Beziehung gedacht werden muss. Aufhebung von Krankheit hat in dem neuen Setting sehr viel mit neuer Entwicklung im sozialen Leben und der unter freundlicher, respektvoller Anleitung durch die psychologischen Therapeuten gefundenen neuen Handlungsperspektive zu tun.

Unter dieser Sicht bilden bisher die akademische Psychologie, die ihre Mitte noch nicht verloren hat, die humanistischen Psychotherapieansätze und die klassische Psychoanalyse, wie sie sich bis zum Anfang der 30er Jahre in dieser Gesellschaft bewegte, und die Studentenbewegung mit ihren lebendigen Kräften, wie sie aus den Sozial- und Gesellschaftswissenschaften herauswuchsen und in den späten 60er und beginnenden 70er Jahren formuliert wurden, die Basis, aus der sich das neue Heilungsparadigma wirkungsvoll speist, bis zum heutigen Tag.

Schauen wir zum Schluss in den neuen Brockhaus um zu erfahren, was denn Psychotherapie sei und lassen uns überraschen:

Ich zitiere aus der Abhandlung das hier Wesentliche:

"Psychotherapie, die Anwendung von geplanten und strukturierten psychologischen Behandlungsverfahren zur Heilung oder Linderung von vom Patienten als krankhaft erlebten Störungen im Bereich der Wahrnehmung, des Verhaltens, der Erlebnisverarbeitung, der sozialen Beziehungen oder der Körperfunktionen, sofern diese Störungen vom Patienten nicht willentlich steuerbar sind und aus der Sicht des therapeutischen Experten auf Krisen seelischen Geschehens oder auf pathologisch veränderte seelische Strukturen zurückgeführt werden können, d. h. `psychogen` sind. Dabei arbeitet der Psychotherapeut mit einem Patienten (Einzeltherapie), mit mehreren Patienten (Gruppentherapie), mit Paaren oder Familien; gelegentlich wird er durch Kotherapeuten unterstützt oder bildet mit anderen ein therapeutisches Team (in der stationären Psychotherapie)."

Die Beschreibung geht weiter und schildert die Voraussetzungen und Ziele der Psychotherapie:

"Die Kommunikation zwischen Patient und Therapeut kann sich auf sprachliche oder außersprachliche Ausdrucksmittel (z. B. körperliche Bewegung oder bildnerische Gestaltung) stützen. Als unverzichtbare Voraussetzung für die Durchführung von Psychotherapie gilt, dass Patient und Therapeut über die Behandlungsbedürftigkeit, über die Art des Vorgehens und das Therapieziel Einvernehmen herstellen konnten. ...

Therapieziel ist die Beseitigung bzw. Besserung von Symptomen oder die Umstrukturierung der Persönlichkeit; diese zielt je nach dem Therapieverfahren auf die Bewusstwerdung verborgener oder verdrängter Persönlichkeitsanteile, die Aufarbeitung unerledigter Konflikte und Traumen, die Eröffnung neuer Erlebnismöglichkeiten, speziell die Freisetzung von Emotionalität und Kreativität, das Erlernen neuer Verhaltensweisen, insbesondere von Strategien der Konfliktlösung und der Bewältigung von unausweichlichen Lebensbelastungen (z. B. von Krankheiten und Traumen).

Allen Therapien gemeinsam ist die systematische und kontinuierliche Gestaltung der Therapeut-Klient-Beziehung durch die Vorgabe der äußeren Behandlungssituation (Setting) und durch die Interventionen des Therapeuten. Zur professionellen Grundeinstellung des Therapeuten gehört, dass er dem Patienten ein wohlwollend akzeptierendes, nicht wertendes Interesse entgegenbringt und versucht, sich in ihn einzufühlen. Von Seiten des Patienten wird Motivation vorausgesetzt, sich mit dem eigenen Leidensdruck auseinander zu setzen, an sich zu arbeiten und Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. ..."

Und über die gesellschaftliche Bedeutung von Psychotherapie sagt die Beschreibung:

"Während Psychoanalyse es seit jeher schwer hatte, im Kreis der Wissenschaften ihren Platz zu finden, stieß sie in der Bevölkerung auf wachsende Resonanz. Ein starker Anstieg des Interesses an Psychotherapie folgte in den 1970er Jahren auf die Studentenbewegung, auf die Schriften von W. REICH, E. FROMM und A. MITSCHERLICH großen Einfluss hatten. Es war das die Ideale der Aufklärung wiederbelebende Interesse am Individuum in seiner Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und seinen verinnerlichten Sozialisationserfahrungen, das Interesse an der Gruppe (als solidarischer Gemeinschaft mit großen Fähigkeiten zu kreativen Konfliktlösungen) und an der Familie (als organismisch soziales System und als Stätte der Sozialisation des Einzelnen). Die Ideale der Befreiung des Einzelnen von überkommenen sozialen Zwängen, der kritischen Reflexion der eigenen Person, des Heraustretens aus der schamhaft-schuldhaften Verborgenheit in das Licht einer nicht mehr als strenge Autorität, sondern als selbstkritische Gemeinschaft verstandene Öffentlichkeit wurden im politischen wie im therapeutischen Raum angestrebt. Zur gleichen Zeit gelang es der Psychotherapieforschung, die Wirksamkeit von psychotherapeutischen Behandlungen nachzuweisen; das bewog die Krankenkassen, Psychotherapie in ihre Leistungspflicht aufzunehmen. ..."

Was bedeutet das für die weitere Perspektive von Klinischer Psychologie an der Universität? Während die ersten 30 Jahre der modernen akademischen Psychologie von einer bereits klinisch gedachten wissenschaftlichen Diagnostik zusammengehalten wurden, gilt das in den darauffolgenden 30 Jahren in Bezug auf die psychologische Therapie. Das damit verbundene Problem ist die nicht ausreichend aufgeklärte und deshalb bisher noch nicht überwundene konkurrenzorientierte doppelte Vertretung von Psychotherapie an den Universitäten und in privaten Organisationen. Hier müsste die akademische Psychologie viel entschiedener, als es bisher versucht worden ist, die Verantwortung übernehmen, den Zugang zur Berufpraxis sichern und den Therapieverbänden einen positiven Platz im tertiären Weiterbildungsbereich zuweisen, in dem, nach der berufs- und sozialrechtlichen Zulassung als Allgemeiner Psychologischer Therapeut, jede weitere Fortbildung begrüßt und mit Forschungsangeboten unterstützt wird. Hier könnte auch die Psychoanalyse, bis auf die Tatsache ihres ehrwürdigen Alters, keinen Ausnahmeplatz beanspruchen.

Der bisherige Psychotherapeutengesetzentwurf müsste energisch zurückgewiesen werden unter der Kritik, dass in ihm der akademischen Psychologie und ihrem Grundverständnis von psychologischer Therapie als der Nutzung einer offenen Ansammlung von psychologischen Wissensbeständen, die sich günstig auf die Praxis der persönlichen Weiterentwicklung unter dem Druck schwerwiegender Symptome auswirken, nicht die Rolle der Sachvertretung zugerechnet worden ist, sondern den KVen und dem Medizinsystem, die das problematische Psychotherapieverständnis haben, dass es sich dabei um medikamenten-ähnliche Anwendungen handele, die, von wem auch immer - in der Analogie zu Pharmafirmen - erfunden, umstandslos in das bisherige Medizinsystem eingeordnet werden könnten, wie das beflissen von der Verhaltenstherapie angeboten wird. In dem revidierten Psychotherapiegesetzentwurf stünde dann etwa: Der vormals von der Psychologenakademie oder jetzt von der Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen organisierte Weiterbildungsgang zum Klinischen Psychologen/Psychotherapeuten BDP ist die Voraussetzung für die berufsrechtliche und die sozialrechtliche Zulassung von Diplom-Psychologen zur selbständigen und Ärzten grundsätzlich gleichberechtigten Ausübung von Psychotherapie. Übergangsregelungen werden im Sinne der Ordnungen für die neuen Fachärzte für Psychotherapie geschaffen. Lebenslange Fortbildung erhält die Approbation aufrecht, die weiteren Fortbildungen werden von einer Psychologenkammer organisiert und berufswirksam zertifiziert.

Und schließlich stünde in diesem Gesetzentwurf, dass Ärzte nur dann zur Ausübung der Psychotherapie zugelassen werden können, wenn sie den Diplom-Psychologen in der Sache äquivalente Qualifikationen besitzen. Das heißt, dass sie das vollständige Psychologiestudium nachweisen müssen, mit der Möglichkeit der Anerkennung gleicher Bestandteile, wie es umgekehrt die Zulassung eines Diplom-Psychologen als Allgemeinarzt auch nur gibt, wenn er Medizin studiert hat.

Ihren besonderen Nachdruck erhält diese Forderung dadurch, dass das Medizinstudium als die wissenschaftliche Grundlage für jegliches eigenverantwortliche Handeln eines Arztes nahezu keine Anteile ausweist, die auf klinische Psychologie und Psychotherapie verweisen können. Allein der Begriff „Therapie" als rechtlich geschützter und dem Arzt vorbehaltener Vorgang des damit aber immer gemeinten physiologisch-chemisch-apparativen Intervenierens, erzeugt den auch nur inhaltsabstinent-juristisch gegebenen Zwang, der aber durch jeden mit der Sache vertrauten Politiker wegen der inhaltlich völlig unangemessen auf Psychotherapie ausgeweiteten Geltung, sofort aufgehoben werden müsste. Sachgerecht interpretiert liest sich der Begriff Therapie, sofern er in medizinisch-ärztlichen Zusammenhängen auftaucht, immer als medizinische, auf den Körper bezogene Therapie Selbst wenn er eine ganze Richtlinien-Psychotherapie-Ausbildung absolviert, ist der Arzt dem Diplom-Psychologen um wissenschaftliche Größenordnungen unterlegen, so sehr, dass man ihn als nicht wissenschaftlich in Psychotherapie ausgebildet bezeichnen darf.

Die Verhältnisse wären endlich völlig klar. Es gibt zwei parallele, miteinander aus historischen Gründen durchaus sinnvoll konkurrierende Heilungssysteme. Diese Konkurrenz würde, mehr als jeder Versuch von Herrn SEEHOFER, zur Kostendämpfung im Gesundheitssystem beitragen. Beide Heilungssysteme würden darüber hinaus auch miteinander kooperieren, jeder Teil mit dem anderen in bezug auf die seinen Geltungsbereich in die Richtung des anderen überschreitenden Probleme. Das Prinzip der gesetzlichen Krankenversicherungen müsste nur minimal geändert werden, und zwar in die Richtung, die der Logik der Sache nach sowieso zu fordern ist: Die Krankenversicherungen sind vom Medizinsystem und vom psychologischen System unabhängige Organisationen der Patienten, die (in Sonderfällen über Gutachter) die Kostenübernahmeansprüche klären.

Eine schöne neue Welt? Entweder wir sehen sie und wollen sie auch und tun etwas dafür, oder die Geschichte der modernen klinisch basierten Diplom-Psychologie ist bereits zuende gegangen und wir haben es bloß alle noch nicht bemerkt.

Aber vielleicht haben wir noch eine Option. Diese besteht sicherlich nur dann, wenn sich alle Diplom-Psychologen, die sich dem historisch Gemeinten in ihrem Entstehungskonzept noch rückhaltlos verbunden fühlen, aufraffen, die bisherige Therapieverbandspolitik mit allem Respekt aber ebenso rigoros in die schon angesprochene "dritte Ebene" zu verweisen, in der sie - wie in der überwiegenden Ausbildungspraxis der Kolleginnen und Kollegen immer schon geschehen - meiner Meinung nach erst ihre volle historische Bedeutung entfalten kann, auf der sie aber nicht mitentscheiden darf, was wissenschaftlich anerkannte psychotherapeutische Verfahren sind. Das kann nur die akademische Psychologie und auch nur im Sinne einer offenen, liberalen Summenbildung über alle wissenschaftlichen Erkundungsprozesse über die zu irgendeinem Zeitpunkt noch vorhandenen Entwicklungsmöglichkeiten eines Menschen hin zu einem Leben, frei von schweren psychosozialen Notlagen.

Diplom-Psychologen mit einer Weiterbildung in Klinischer Psychologie und Psychotherapie sind Ärzten über ein Gesetz gleichzustellen. Die bisherige Organisation der Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen ist in die Äquivalenzform zur Kassenärztlichen Bundesvereinigung zu überführen. Von einem Psychologischen Psychotherapeuten festgestellte psychosoziale Notlage mit Krankheitswert ist den ärztlichen Feststellungen von Krankheit gleichzustellen.

Wenn uns das gemeinsam in der nächsten Zeit nicht so gelingt, dann wird das Gesundheitssystem nach 100 Jahren ein zweites Mal den wissenschaftlich erreichten Fortschritt in der angemessenen und wirksamen psychosozialen Versorgung der Bevölkerung feindlich abdrängen, mit dem Ergebnis, dass das reale Gesundheitssystem zu einem gering qualifizierten, nicht ausreichend an den Interessen der Betroffenen, sondern in peinlicher Weise am ökonomischen Vorteil der ärztlichen Träger orientierten System verkommt.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

*

.